Presse:
Augst & Daemgen haben ein vielschichtiges Konvolut an Liedern gesammelt und in der Tat neu interpretiert. Man könnte ihr Album als Songbook der Deutschen im 20. Jahrhundert bezeichnen, schließlich reichen die Titel vom Ende der legendären Zwanzigerjahre bis in die deutsche Zweistaatlichkeit nach dem Krieg.
Frank Kämpfer, DLF, 12.10.2024
Anmoderation für „Davon geht die Welt nicht unter“:
„2025 ist dann ja das Jahr, in dem sich das Ende des 2. Weltkrieges zum achtzigsten Mal jähren wird und dieser Jahrestag wirft auch schon seine Schatten voraus. Oliver Augst und Marcel Daemgen vom Künstlerkollektiv textXTND sind bekannt für ihre musikalischen Experimente. Ihr neues Album „1945 davor/danach“ ist Ende 2024 beim digitalen Musikvertrieb recordJet erschienen. Darauf widmen sich Sänger Augst und Keyboarder Daemgen dem deutschen Schlager um 1945, unterstützt von der Pianistin Sophie Agnel. Dabei gehts ihnen natürlich nicht um Nostalgie, sondern um musikalische Reflexionen, um, wie sie sagen, eine seziergenaue Untersuchung des Knochenbaus dieser Musik und deren Texte aus dem Blickwinkel des Hier und Heute. Die alten Lieder werden also dekonstruiert und verfremdet bis hin zur Kenntlichkeit.In Zarah Leanders Weltkriegsschlager „Davon geht die Welt nicht unter“ zum Beispiel kommt ziemlich deutlich der wahre Kern zum Vorschein, wenn man die Musik all ihrer Emphase entledigt und sie mit originalen Radioklängen aus Kriegszeiten konfrontiert.“
Niels Kaiser, hr2 Kultur
Kaisers Klänge, Musikjahr 2024 – Die schönsten Überraschungen
15.01.2025
„Heile heile Gänsje"
Oliver Augst und Marcel Daemgen widmen sich auf dem Album "1945 before/after" dem deutschen Schlager
Der deutsche Schlager ist ein Phänomen des Massenmedien-Zeitalters, erfunden in den frühen Jahren des Hörfunks und des Tonträgermarktes und bis heute überaus lebendig darin. Von den populären Musikstilen der Nachbarländer unterscheidet sich der deutsche Schlager beträchtlich, künstlerische Markanz wie das französische Chanson hat ihn nur vorübergehend und nebenbei interessiert, etwa während der Weimarer Jahre. Seine Allgegenwart sollte dennoch nicht über seine Spezialität, historische Befindlichkeiten auszudrücken und zu transportieren, hinwegtäuschen.
Ein Lied des großen Friedrich Hollaender aus dem Jahre 1930, populär geworden durch Marlene Dietrich, liefert eine bündige General-Überschrift des deutschen Schlagerwesens: „Wenn ich mir was wünschen dürfte...“. Wobei der Text eine für Hollaender typische leicht düster gefärbte Doppelbödigkeit aufweist, die sonst im Mitklatsch-Genre kaum üblich ist: „...möchte ich etwas glücklich sein / denn wenn ich gar zu glücklich wär‘ / Hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein.“ Mit ihren kleinen Fluchten aus der Realität haben sich deutsche Schlager mehrheitlich zu einem Wunscherfüllungs- und Trost-Genre entwickelt und als solches die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre begleitet.
Oliver Augst und Marcel Daemgen interpretieren und analysieren den deutschen Schlager unter dem Aspekt der in ihn eingeschriebenen Verdrängungsleistungen. Sie haben die Stücke neu arrangiert und Analyse und Interpretation kunstvoll zu einem identischen Prozess verflochten. Sie spielen die harmlosen Oberflächen der Lieder gegen historische Kon- und Subtexte aus und konfrontieren die leichtfüßigen Melodien gnadenlos mit dem Schrecken, der eigentlich ignoriert werden soll.
So wird etwa eine originale Rundfunk-Meldung von deutschen Funkpiraten aus dem Jahr 1942 über Geländegewinne der Russen an der Ostfront und 3000 gefallene Deutsche eingespielt, bevor Bruno Bolz’ enorm populäres „Davon geht die Welt nicht unter“ erklingt. Bei „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“, ebenfalls aus dem Jahr 1942, denkt man dann schon fast von allein an die ersehnten und vom „Führer“ versprochenen Wunderwaffen.
„Auferstanden aus Ruinen“ von Hanns Eisler und Johannes R. Becher, das als neue Nationalhymne gedacht war und dann zur Hymne nur der DDR wurde, wird durch eine Weglassung interpretiert: Oliver Augst erwähnt den Textbaustein „Deutschland, einig Vaterland“ gar nicht erst, eingedenk der Tatsache, dass das Thema der deutschen Einheit erledigt schien und die Hymne seit den 1970er Jahren bei offiziellen Anlässen nur noch instrumental vorgetragen wurde.
Das Album:
Oliver Augst, Marcel Daemgen. 1945 Before/After. Zu erhalten über textxnd.de
Das Jahr 1945 bildet auch in der populären Musik eine Zäsur. Sie wird läppischer, verlogener, schlechter. Es gibt Geschlechtsrollenstückchen („Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“), mühsam witzige Kommentare zur Wirtschaftswunder-Mentalität („Auf meinem Konto steht das Komma zu weit links“) und frühe Partykracher, die die Realität mutwillig beiseite schieben („Musik ist Trumpf“).
Das arme Mainz
Und es gibt ein Übergangslied. Das unsterbliche „Heile heile Gänsje“, ein Trostlied für die Vierjährigen jeden Alters, existiert in einer Version aus 1929 und einer aus dem Nachkriegsjahr 1952. Die neuere (ergänzt um Verse von Georg Zimmer-Emden) benennt dabei präzise die Verdrängungsleistung, die es darstellt. Es wendet sich an das im Krieg zerbombte „arm’, zertrümmert Mainz“ mit den Worten: „Hab nur Geduld / ich bau dich wieder auf geschwind / du warst ja gar nicht schuld“.
Schuld waren nicht die, die noch da waren: Auch diese Beteuerung gehört zur Trost-Arbeit des deutschen Schlagers. Und die Zuversicht, dass in hundert (und nicht erst nach tausend) Jahr’n alles weg sein wird.
Hans-Jürgen Linke, FR, 22.01.2025
Das Leere und das Verdrängte
Oliver Augst, Marcel Daemgen: Davon_geht_die_Welt_nicht_unter: neu interpretiert
DLF, Sonntag, 26.11.2023, 22.05 bis 23.00 Uhr
Oliver Augst und Marcel Daemgen interpretieren seit 25 Jahren deutsches Liedgut verschiedener Epochen und politisch-ästhetischer Sphären - von Volks- bis hin zu Kunstliedern. Jetzt haben sie sich deutscher Schlager zwischen 1930 und 1950 angenommen.
Die Frage, was man hört, wenn man ein Lied oder einen Schlager hört, ist nicht so einfach zu beantworten, wie man meinen könnte. Seit Oliver Augst und MArcel Daemgen 1998 unter dem Label „Arbeit“ eine CD mit Liedern von Hanns Eisler angenommen haben, gehen die beiden Musiker und Hörspielmacher dieser Frage nach. In Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk haben sie in den vergangenen 25 Jahren Volks- und Kunstlieder neu interpretiert und sind mit ihrer neuen Produktion "Davon_geht_die_Welt_nicht_unter" bei Schlagern der 1930er bis 1950er Jahre gelandet. Die Tief- oder Unterstriche im Titel füllen die Leerstellen auf, die sonst in Dateinamen oder Verzeichnisstrukturen verboten sind - eine Metapher, die einerseits auf das Verdrängte, andererseits aber auf die Leere verweist.
Das Radiokonzert im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln vom 28. Oktober ist jetzt als von Hanno Ehrler kommentiertes „Konzertdokument“ gesendet worden. Gleich im ersten Stück hämmert die Pianistin Sophie Agnel am Flügel immer auf dieselbe Taste und Oliver Augst intoniert als Solostimme dagegen den Refrain von Zarah Leanders Klassiker „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ aus dem Jahr 1942.
Melodie und Begleitung stehen in einem Spannungsverhältnis, das nicht aufgelöst werden kann. Denn was hören wir da eigentlich: den Durchhalteschlager aus dem Film „Die große Liebe“, während an allen Fronten das Sterben beginnt - so erzählt es der Kommentar - oder erinnert man sich vielleicht an den Textdichter Bruno Balz, der wegen seiner Homosexualität von der Gestapo verhaftet wurde und den Song unmittelbar nach seiner Entlassung schrieb - was im Kommentar nicht erwähnt wird.
Historische Ambivalenzen
Man wolle „die Kristallisationen von Politischem in dieser Musik hörbar machen“, sagt Marcel Daemgen im Gespräch mit Hanno Ehrler. Und natürlich solle es auch um das Ideologische gehen, was sich in die Musik eingeschrieben habe. So unbefangen, „als sei nichts gewesen“, könne man die Musik nicht hören, so unpolitisch sich Zarah Leander, die bestbezahlte Schauspielerin im Dritten Reich, auch gegeben habe. Nach dem Krieg konnte sie ihre Gesangskarriere fortsetzen - mit Texten von Bruno Balz und seinem Komponisten Michael Jary.
In dem andere Leander-Hit „Davon geht die Welt nicht unter“, ebenfalls aus dem Film „Die große Liebe“, bemüht sich Oliver Augst, dem Drehimpuls des Dreivierteltaktes zu entgehen. Doch der Versuchung, in den Schunkelrhythmus zu verfallen, ist kaum zu entkommen. Ist die Stimme von Augst sonst immer nur solo zu hören, wird sie hier auf elektronischem Wege chorisch vervielfacht. Doch gegen diesen Song helfen weder die immer wieder abbrechenden Rhythmen von Schlagzeuger Jörg Fischer noch die eingespielten zeitgenössischen Radiomeldungen über den Kriegsverlauf und die Zahl der Gefallen. Diese Songwelt könnte man höchstens mit einer Brute-Force-Attacke zerstören, doch das ist nicht das Interesse des vierköpfigen Ensembles Augst/Daemgen/Agnel/Fischer.
Mit seiner Pointe, dass die Welt nicht untergehen könne, weil sie ja noch gebraucht werde, sollte der Schlager recht behalten. Denn im anschließenden Song - zwanzig Jahre später entstanden - verkündet die Titelmelodie der Unterhaltungsshow von Peter Frankenfeld: „Musik ist Trumpf im Leben, sie wird es immer geben, solang' der Globus sich noch dreht, solange unsere Welt besteht.“ In der Interpretation von Augst und Daemgen wird daraus eine Art Free-Jazz-Version mit zugespieltem Rundfunktanzorchester - man kann das durchaus als Kapitulation gegenüber der Kulturindustrie auffassen.
„In hundert Jahren ist alles vorbei“, kommentiert das 1929 entstandene Kinderlied „Heile, heile Gänsje“ die Situation. 1952 hat es Ernst Neger bei der Mainzer Fastnacht mit neue Strophen gesungen: „Wär ich einmal der Herrgott heut, dann wüsste ich nur eins: / Ich nähm' in meine Arme weit mein arm' zertrümmert' Mainz. / Und streichel es ganz sanft und lind und sag': 'Hab' nur Geduld! / Ich bau Dich wieder auf geschwind! Du warst doch gar nicht schuld'.“ Die ebenso tränenreiche wie energieraubende Verdrängungsleistung ist hier überdeutlich. Besser kann man die historischen Ambivalenzen, die in solche Lieder eingeschrieben sind, kaum demonstrieren.
Mit dem Wissen um die Geschichte und die Diskursformationen, in denen die Songs entstanden sind, kann man sich ihrer kritischen Rezeption kaum entziehen. Im zurückgenommenen Gesang von Oliver Augst und den von ihm weitgehend unabhängig improvisierenden Musikern wird aber zugleich eine Gegenbewegung hörbar - die Entleerung der Songs von ihren Kontexten und die Konzentration auf Melodie und Text, die zugleich eine Abstraktion ist. Die Lieder sind dann nicht mehr Ausdruck ihrer Entstehungszeit, sondern stehen für sich.
Das gilt auch für die Volkslieder, die Augst und Daemgen auf ihrem Album „An den Mond“ veröffentlicht haben, wie auch für die „Winterreise“ oder die Alben „Arbeit“ und „Marx“, die alle in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk entstanden sind und die mal auf anrührende, mal auf aggressive Weise deutsches Liedgut auf die Probe stellen. Clicks and Cuts sowie modulierte Brummschleifen und Störgeräusche - inzwischen auch schon historische Verfahrensweisen elektronischer Musik - geben den Liedern jene Modernität wieder, die sie zu ihrer Entstehungszeit schon einmal hatten.
„Das Radio spielt Lieder vom Weltuntergang“, sagte der „Tagesthemen“-Sprecher Hanns Joachim Friedrichs in Andreas Ammers Hörspiel „Apokalypse live“. In „Davon_geht_die_Welt_nicht_unter“ kann man hören, wie das klingt und wie es von einem Weltuntergang zum nächsten immer weitergeht. Das Radio ist immer dabei. Jochen Meißner - KNA Mediendienst, 30.11.2023
Titel
CD Cover
Booklettext (Frank Kämpfer)
Booklettext (ins Englische von Michael Turnbull)
Wie harmlos sind Schlager? (Hanno Ehrler)
How Innocuous Is Schlager? (ins Englische von Michael Turnbull)
Presse
Foto
Live-Konzert
Offzielles Musikvideo
CD-Bestellung: €20,- zuzügl. Versandkosten